EUROPA JAHRBUCH DER MENSCHENRECHTE

STEFAN STRATIL

“DIE ENTFESSELUNG EINER IDEE VON BEWEGUNG“

Er studierte an der Hochschule für angewandteKunst Wien in Maria Lassnigs Meisterklasse für experimentelles Gestalten und erlernte bei Hubert Sielecki Animationsfilmtechniken. Er setzt sich in seinen Arbeiten mit dem Mensch und seinen unterschiedlichen Aspekten auseinander, hinterfragt den Zwiespalt zwischen Körper und Seele („Der Mensch mit den modernen Nerven“ und „I’m a Star!“ wurden unter anderem bei den internationalen Filmfestspielen in Cannes, beim internationalen Filmfestival in Rotterdam, bei der Berlinale und beim Festival du Court-Métrage de Clermont- Ferrand gezeigt.) und ermöglicht mit seinen Animationen und Zeichnungen einen differenzierten Blickwinkel auf gesellschaftspolitische und soziale Themen.

STEFAN STRATIL IST EIN ÖSTERREICHISCHER ILLUSTRATOR,KÜNSTLER, FILMREGISSEUR, PRODUZENT VON ANIMATIONSKURZFILMEN UND ARBEITET U.A. AN MUSIKVIDEOS UND COMICS.

„Die Fertigstellung eines Bauwerks ist immer auch ein Innehalten: das Unterbinden einer in der Planung mitgedachten Bewegung.
Einen (architektonischen Skizzen und Modellen innewohnenden) Bewegungsgedanken effektvoll in Bewegung überführend, lassen Bady Minck und Stefan Stratil in ‚Der Mensch mit den modernen Nerven‘ die von Adolf Loos 1923 gezeichneten Entwürfe für ein Rathaus in Mexiko City aus dem Zeichentisch wachsen – und in der Folge zum fließenden Rahmen einer schwindelerregenden Komposition sich überstürzender, schneidender und im Widerstreit ständig neu formierender Modellumrisse werden. […] Ihr Film ist die Entfesselung einer (architektonischen) Idee von Bewegung, oder, einem zu Beginn eingeblendeten Zitat Adolf Loos‘ folgend, das ‚Lösen des Grundrisses im Raum’ – in diesem Fall einem filmischen Raum.“ – Robert Buchschwenter | Programmheft Filmcasino, Wien, Mai 1999

Stefan Stratil ist Vordenker und kreativer Erschaffer von neuen Denkansätzen und Lösungsmöglichkeiten. Seine Werke wachsen oft über die bisher dagewesene Vorstellungskraft hinaus und erschaffen so neue Räume und eine Erweiterung der bisher vorhandenen Möglichkeiten.

BITTE KEINE ILLIBERALE EU !!

In einem durchaus wohlhabenden, europäischen Rechtsstaat, also etwa in Österreich oder Deutschland, sollte es eigentlich möglich sein, rechten und linken Gesellschaftsentwürfen anzuhängen und sie zu vertreten. Nicht weil es egal ist, sondern weil eine Gesellschaft, die Vertrauen in ihre Ordnungsprinzipien hat, den respektvollen Umgang und erforderlichen Ausgleich pflegen wird. Wobei in einer gefestigten Demokratie ganz sicher auch ein paar Chaoten an den jeweiligen Rändern des politischen Spektrums zu verkraften sind. Zur Mehrheit sollten sie allerdings nicht werden.

Im Hinblick auf seine staatlichen Ordnungsprinzipien hat dieser Kontinent Europa vieles probiert und manches durchlitten und nach den mörderischen Katastrophen zweier Weltkriege doch hoffentlich begriffen, dass es sich im friedlichen Miteinander besser leben läßt und das Schüren von Angst und Missgunst mit hoher Wahrscheinlichkeit verderbliche Folgen hat. Eine solche Erkenntnis erfordert keine abgehobene Bildung, sondern im Hinblick auf die meisten Familiengeschichten, nur ein klein wenig Nachdenken und ein Mindestmaß an gutem Benehmen.

Buchstäblich auf den Trümmern des zweiten Weltkrieges entstand in Europa dieser verbindende Konsens darüber, dass Wohlstand nur auf friedlichem Weg und in gegenseitigem Respekt erreicht und erhalten werden kann. Solche Überlegungen führten zur Gründung der Montanunion (1951) und schließlich zur Unterzeichnung der sog. Römischen Verträge (1957) einem politischen Zusammenschluss wichtiger europäischer Staaten zur EWG.

Die Welt war damit nicht prinzipiell friedlich geworden, man sprach vom „Kalten Krieg“ in dem sich Ost und West waffenstrotzend gegenüberstanden und Konflikte noch immer als blutige Kriege ausgetragen wurden (ich erinnere an Korea, Vietnam, die Kubakrise, Afghanistan, die Golfkriege und den Jugoslawien Krieg). Zumindest im Bereich der Europäischen Gemeinschaft konnte der Grundsatz „Nie wieder Krieg“ aufrechterhalten werden. Der Ostblock zerfiel, der „eiserne Vorhang“, der Europa teilte, wurde friedlich abgebaut (1989) und die EG zur Europäischen Union (1992 Vertrag von Maastricht) ausgebaut.

Wenn man bedenkt, dass man in Europa nicht allzu weit fahren muss, um auf historische Schlachtfelder zu treffen, könnte man diese jüngere Entwicklung Europas als unerwartete Erfolgsgeschichte bezeichnen. Ein Dreiviertel Jahrhundert ohne Krieg, in Ländern, deren Böden blutgetränkt sind und deren Bevölkerung lange Zeit gar nicht glauben wollte, dass eine solche Friedensperiode möglich ist.

Ich gebe zu, dass nicht alles eitel Wonne ist. Der gestiegene Wohlstand ist bei weitem nicht gleichmäßig verteilt und er ist immer wieder durch Krisen bedroht, aber ich möchte mir nicht ausmalen, wozu diese Krisen geführt hätten, wenn es diese Europäische Union nicht gäbe und wie Österreichs Wirtschaft heute dastehen würde, wenn wir 1995 diesem Bündnis nicht beigetreten wären.

Neben dieser friedenswilligen Mehrheit der europäischen Bevölkerung formierten sich an den gesellschaftlichen Rändern sowohl linksradikale, als auch rechtsradikale Gruppierungen, die zwar erhebliche Unruhe stifteten und sich offen zu terroristischen Anschlägen bekannten um die Rechtsordnung der Staaten herauszufordern und sie solcherart auszuhöhlen und zu zerstören, aber sie blieben jahrzehntelang auf ihre Außenseiterrolle fixiert und waren so gut wie chancenlos in Regierungsfunktionen zu kommen. Noch vor wenigen Jahren wäre ich jede Wette eingegangen, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird.

Ich gestehe, dass meine historische Beobachtung nicht ausreicht, um sagen zu können, ab wann rechtsnationalistische Parteien ihr populistisches Mäntelchen übergezogen und sich wie der „Wolf im Schafspelz“ in das politische Denken der friedfertigen Mehrheit eingeschlichen haben. Die verwendete Methodik ist aber im Verlauf europäischer Geschichte erprobt und was die letzten Jahrzehnte anlangt, mir durchaus noch in Erinnerung.

Zunächst müssen die Wähler darauf hingewiesen werden, dass es ihnen eigentlich gar nicht so gut geht, wie sie glauben. Vor allem aber hilft es, auf jene Schmarotzer zu zeigen, denen es ungerechtfertigt besser geht. Also beispielsweise, die sogenannten Bildungseliten die ohnedies nur geschwollen daherreden. Das Kultur-Establishment, das sich von Steuergeld subventionieren läßt, einzelne Wohlstandsgewinner deren Pensionen den Jungen die Butter vom Brot nehmen.

Schließlich die Beamten und Lehrer, die allesamt wenig arbeiten und auf Kosten der Allgemeinheit ein gutes Leben führen. Die Gesellschaft wird insgesamt als verweichlicht gesehen, Minderheiten werden verunglimpft und diskreditiert. Schuld an den Missständen sind „die da oben“, internationale Verschwörungen und die Europäische Union, die sich nur um die Krümmung der Gurken kümmert.

Das alles war längst zum gewohnten politischen Spiel geworden, aber es hätte wohl nicht gereicht in die Parlamente hinein gewählt zu werden.

Bis zu jenen denkwürdigen Tagen, als plötzlich tausende Menschen die Autobahn zwischen Budapest und Wien blockierten, weil sie in den zugewiesenen, heillos überfüllten Lagern nicht verhungern wollten und ihr Heil im gepriesenen Westen suchten.

Zuvor hatte man ihre Wohnungen zerbombt, sie in Lager gezwungen, dort ihre Versorgung gekürzt und viel zu lange nichts unternommen, um die Waffenlieferungen zu stoppen und die Kriege zu beenden.

Nach einer kurzen Phase des „refugees wellcome“ wusste man, wer die Feinde waren. Ab jetzt gab es im Fernsehen täglich Bilder von zerlumpten, dunkelhaarigen Typen, die sich weigerten, die in die Menge geworfenen Essenspakete vom Boden aufzuheben, die errichtete Absperrungen umgingen und Zäune niederrissen. Europa musste zur Festung ausgebaut werden! Frau Merkel und mit ihr fast alle westeuropäischen Regierungschefs hatten versagt. Ab jetzt riefen die nationalistischen Rechtsparteien „wir sind das Volk“. In der politischen Debatte durfte man sich wieder jener Formulierungen bedienen, die jahrzehntelang nur in abgeschiedenen Zirkeln gebraucht wurden. Man feierte das ersehnte Ende der „political correctness“ und zog mit Nazisymbolen am Revers in die Parlamente ein. In manchen Ländern reichte die Angst vor der propagierten „Umvolkung“ sogar aus, um in die Regierung zu kommen. „Schöne neue Welt.“ Jetzt wird alles besser.

Ich verkneife es mir, hier über die inzwischen spürbar werdenden „Errungenschaften“ dieser neu zusammengesetzten Regierungen zu schreiben, weil ich hoffe, dass die Wähler noch selber draufkommen werden.

Was mich besorgt ist die Zusammenführung der destruktiven Energie auf europäischer Ebene. Die Geschwindigkeit mit der dieses Friedensprojekt Europa in ein waffenstrotzendes Konglomerat von Einzelinteressen, umgewandelt werden soll. Die Gleichgültigkeit mit der Einschränkungen persönlicher Freiheiten hingenommen werden. Die rasant um sich greifende Unbedenklichkeit, wenn es darum geht Religionen und Volksgruppen zu diffamieren, sie zu Schuldigen zu stempeln und auszugrenzen.

Dieses Europa, das nach Jahrhunderten kräfteraubender Nationalitätskämpfe als Chance friedvoller demokratischer Entwicklung gegründet und gelebt wurde, hat scheinbar vergessen, was Neid und Missgunst anzurichten vermögen und diskutiert ernsthaft darüber, Menschenrechte und Demokratie als unzeitgemäße Hindernisse auf der Müllhalde der Geschichte zu entsorgen.

Die Vereinigten Staaten von Amerika, die nach Ende des Krieges gewaltige Summen investiert hatten um die Demokratien Europas zu festigen, werden heute von einem Präsidenten geführt, dem die Wirtschaftskraft der Europäischen Union offenbar ein Dorn im Auge ist. Die einstige Sowjetunion, die auch deshalb zerfiel, weil ihr politisches und wirtschaftliches System dem Vergleich mit der Freiheit des Westens nicht standgehalten hat, fühlt sich von Europa ausgegrenzt und betrogen und möchte die Macht Europas lieber heute als morgen, beendet sehen. Die neu aufkeimende Liebe Chinas zu den Absatzmärkten Europas sollte in diesem Zusammenhang mit großer Vorsicht erwidert werden. Schon deshalb, weil der Versuch von Handelsverträgen mit einzelnen Staaten erkennen läßt, dass man an einem geeinten Europa eher wenig interessiert ist.

Wenn Europa seine Chancen in diesem sich neu ordnenden Kräftespiel wahren möchte, werden wir wohl oder übel erkennen müssen, dass der Bestand unseres Wohlstandes nur dann halbwegs gesichert bleiben kann, wenn Europa geeint bleibt und seine Positionen verstärkt. Alles Gerede von der Stärkung nationaler Einzelinteressen bedeutet eine Schwächung gegenüber den mächtiger werdenden Machtblöcken außerhalb der Europäischen Union und stellt ein sehr gefährliches Experiment dar, das die Wähler bei der kommenden EU-Wahl nicht in Kauf nehmen sollten.

– GERHARD NOVAK
09.05.2019, fisch&fleisch, Foto by: g.novak

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